brevitas/Kürze
In dieser Episode
„Zwar nicht Rilke… – aber dafür kurz.“ Mit dieser Einsicht liegt Helge Schneider voll im Trend, ist Kürze doch der kommunikative Imperativ im 21. Jahrhundert. Vor allem kurze Mitteilungen und kleine Formate scheinen heute noch konkurrenzfähig, als Informations- und Unterhaltungs-Chips, die um die Aufmerksamkeit der Rezipienten buhlen. Damit qualifizieren sie sich als Produktionsschemata für die flotte Schreiberin, als Formate für Medien, in denen (Sende-)Zeit und Zeichenzahl knappe Ressourcen sind, als Rezeptionsangebot für die eilige Leserin.
Was aber, wenn die vermeintliche Kürze nur eine scheinbare ist? Wenn das, was kurz und geschmeidig daherkommt, eine Rezeptionsdauer beansprucht, die in keinem Verhältnis zur absoluten Länge (bzw. Kürze) eines Textes steht? Wenn kurze Formen ein verstörendes Spiel mit Lesegewohnheiten und -erwartungen initiieren, indem sie irritieren, provozieren, Komplexität, Leerstellen und Mehrdeutigkeiten aufweisen, (Kontext-)Wissen, Ergänzungen, (Nach-)Denken, Mit- und Weiterarbeit, kurz: einen intensiven Modus der Lektüre einfordern, der den Kurzschluss zwischen Kürze und Einfachheit Lügen straft?
Die Diskussion um Kürze ist nicht erst ein Phänomen des Gutenbergzeitalters. Sie wird bereits seit zwei Jahrtausenden geführt: Wann immer es um öffentliche Rede ging, war von der Antike bis weit in die Neuzeit hinein die Rhetorik zuständig – und hält ein differenziertes Instrumentarium zur Beschreibung dessen parat, was heute im Haifischbecken der Aufmerksamkeitsökonomie schon fast wie ein Naturgesetz anmutet.
Dr. Maren Jäger ist Postdoktorandin im Graduiertenkolleg „Kleine Formen“. Ihr Forschungsprojekt Brevitas. Kürze zwischen Ökonomie und Ästhetik hat zum Ziel, „den ökonomisch funktionalisierten Kürzebegriff mit einem autonomen poetischen und rhetorischen Gegenbegriff zu konfrontieren“. Im November 2018 haben wir bereits ein Gespräch mit Maren Jäger veröffentlicht, in dem sie die Unterschiede erläutert zwischen quantitativer und qualitativer, absoluter und relativer sowie autonomer und heteronomer Kürze.
Danksagung
Wir danken dem Bochumer Musik-Label Roof Records für die Abspielgenehmigung von Helge Schneiders Gedicht Der Rabe, das 1993 auf dem Album Es gibt Reis, Baby erschienen ist.
Literatur
Quellen
Cicero, Marcus Tullius: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Lateinisch – deutsch, hg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Darmstadt 1998.
Friedell, Egon: Peter Altenberg, in: ders.: Ist die Erde bewohnt? Theater, Feuilleton, Essay, Aphorismus, Erzählung, hg. v. Reinhard Lehmann, Berlin 1990, S. 146-173.
Horaz [Quintus Horatius Flaccus]: De arte poetica, in: ders.: Sämtliche Werke. Lateinisch und Deutsch, hg. v. Hans Färber, München 1970, S. 230-259.
Quintilianus, Marcus Fabius: Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. u. übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 2006.
Schneider, Helge: Der Rabe, in: Es gibt Reis, Baby (1993).
Forschungsliteratur
Avanessian, Armen (Hg.): #Akzeleration, Berlin 2013.
Glaser, Peter: Sofortness (2008); http://www.heise.de/-273180 [Zugriff: Februar 2019].
Han, Byung-Chul: Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Bielefeld 2009.
Jäger, Maren: Die Kürzemaxime im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund der brevitas-Diskussion in der Antike, in: Claudia Öhlschläger/Sabiene Autsch/Leonie Süwolto (Hg.): Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Medien und Kunst, Paderborn 2014, S. 21-40.
Jäger, Maren: KISS. »Keep it short and simple!«, in: Constanze Fröhlich/Martin Grötschel/Wolfgang Klein (Hg.): Abecedarium der Sprache, Berlin 2018, S. 94-99.
Kallendorf, Craig/Gondos, Lisa: Art. „Brevitas“. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1994, Bd. 2, Sp. 53-60.
Kittler, Friedrich: Im Telegrammstil, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt/Main 1986, S. 358-370.
Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/Main 2005.