Der kleine Film

Der kleine Film

16mm-Schmalfilme, wie sie ab 1923 neu entwickelt wurden, spielen im medienwissenschaftlichen Diskurs wenn überhaupt nur eine Nebenrolle: Ihr Format und ihre Bildgegenstände sind klein, die Reichweite ihres Diskurses ist begrenzt, ihr Produktionswert gering. Doch wie schon der französische Filmtheoretiker Chris Marker, der die proliferierenden Privatfilme seiner Zeit vor der hochgerüsteten Filmindustrie verteidigt, sieht auch die Berliner Filmwissenschaftlerin Linda Waack die randständige Position kleiner Filme nicht als Defizit, sondern als Privileg. Weil der kleine Film zu großen Erzählungen der Filmgeschichte quer verläuft und sich von Starsytem oder Autorenkino absetzt, bietet er für Waack Gelegenheit, das Kleine als filmtheoretische Größe zu thematisieren.

Ausgehend von einer in den frühen 1930er Jahren im Großraum Berlin eingefangenen Szene betrachtet Waack die Gebrauchsweisen und -kontexte kleiner Filme und entdeckt in der Art ihrer Aufbewahrung in Keksdosen, Schuhschachteln oder Urnen eine Parallele zur Archivarbeit: „Archivarbeit ist wie eine Schachtel Pralinen: Man weiß nie, was man kriegt“. Waacks diskursive Kamerafahrt durch ein bislang unterbelichtetes Kapitel der Filmgeschichte mündet schließlich in der These, dass Schmalfilme gerade aufgrund ihrer Randständigkeit vor dem aktuellen Hintergrund wieder interessant werden. Auf Plattformen und Apps wie YouTube, Snapchat oder TikTok kommt der kleine Film groß raus.

Dr. Linda Waack ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Dissertation Der kleine Film. Mikrohistorie und Mediengeschichte erschien 2019 bei Wilhelm Fink in Paderborn. Linda Waack ist Mitherausgeberin des Wörterbuchs kinematografischer Objekte (2014), ein Projekt, das mit unserer Podcast-Enzyklopädie gewissermaßen strukturell verwandt ist. Waack ist außerdem Redakteurin des Online-Magazins nach dem Film, zum 20. jährigen Bestehen gab sie im „Kompressor“ von Deutschlandfunk Einblicke in ihre Arbeit („Das Lesen der Anderen“).

Das Fundstück, das Linda Waack so anschaulich beschreibt, liegt in der Landesfilmsammlung Baden-Württemberg, die mehr als 10.000 Filme aus dem Südwesten Deutschlands ihr Eigen nennt. Diese audiovisuelle Schatzkammer sowie zahlreiche Online-Archivprojekte machen Amateuraufnahmen unterschiedlicher Epochen für die Nachwelt zugänglich, u.a. das „Archiv des analogen Alltags“ Digit, ein Projekt des WDR; die Open Memory Box mit Schmalfilmen aus der DDR, oder die ZDF-Dokumenten Wir im Krieg. Privatfilme aus der NS-Zeit.

Bibliographie

Publikationen von Linda Waack (Auswahl)

Der kleine Film. Mikrohistorie und Mediengeschichte, Paderborn: Fink 2020 [Reihe Film Denken ].

Wörterbuch kinematografischer Objekte, Berlin: August 2014 (mit Marius Böttcher, Dennis Göttel, Friederike Horstmann, Jan Philip Müller, Volker Pantenburg und Regina Wuzella).

Feminismus und Film, Nach dem Film No. 17 / Frühjahr 2019, Red. (mit Friederike Horstmann und Daniela Wentz). Editorial: https://nachdemfilm.de/issues/no-17-feminismus-und-film-0.

Walfreiheit. What it took Cinema to Free Willy, in: nachdemfilm, Nr. 18, 2020. https://nachdemfilm.de/issues/text/walfreiheit.

Gerhart Hauptmann beim Golfspiel auf Hiddensee. Zu Kracauers Mikrohistorie, in: Bernhard Groß, u.a. (Hg.): Film und Gesellschaft denken mit Siegfried Kracauer, Wien: Turia + Kant 2018, S. 99–106.

Dekor und Reduktion. Wie der Film über seine Ausstattung kommuniziert, in: film bulletin, Nr. 2, 2018, S. 56–63.

Kleine Prosa, kleiner Film. Ein Millimeter Abstand, in: Eject. Zeitschrift für Medienkultur, Nr. 7, 2017, S. 76–99.

Zur Arbeit am Freizeitfilm, in: Siegfried Mattl u.a. (Hg.): Abenteuer Alltag. Archäologie des Amateurfilms, Wien: Synema 2015, S. 87–98.

Verwendete Literatur

Dr. H. Lummerzheim: Schmalfilmtechnik, in: Der Bildwart. Blätter für Volksbildung, Nr. 1–6, 1933, S. 3–10.

Chris Marker: Aus dem Bereich des Amateurfilms, in: DOK 50, Sondernummer Film und Kultur, 1950, S. 64.

Paolo Caneppele: Das schönste Behältnis. Ode an die Lagerungspraktika der Filmamateure, in: Thomas Ballhausen u. a. (Hg.): Geschichte erzählen: Medienarchive zwischen Historiographie und Fiktion, Münster u. a.: Lit 2014, S. 81–108.

Jeanpaul Goergen: Der pikante Film. Ein vergessenes Genre der Kaiserzeit, in: Thomas Elsaesser u. Michael Wedel (Hg.): Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne, München: edition text+kritik 2002, S. 45–61.

Jens Schröter: Sehr kurze Bewegungsbilder. Zu einer kleinen Form, in: Autsch u. a. (Hg.): Kulturen des Kleinen, S. 251-264.

Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, in: ders.: Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971.

Credits

Text: Linda Waack

Produktion und Schnitt: Florenz Gilly

Redaktion: Marie Czarnikow und Steffen Bodenmiller

Zitate: Felix Lindner, Johannes Spengler und Darja Benert

Moderation: Elisabeth Rudolph

Sounds: BBC Sound Archive

Music by Blue Dot Sessions

Tracks (by Holyoke): The Consulate, Secret Pocketboocks, Louver, San Diego

In der Soundcollage bei Minute 11:35 sind zu hören: Ausschnitte der Youtube-Videos Me at the Zoo (2004, Jawed Karim; erstes YouTube-Video überhaupt), The Most Searched: A Celebration of Black History Makers (2020, Google), Every Cat has a Different Meowing Voice (2014, Haus von Fluffenstein) sowie die Audio-Spur eines viralen TikTok-Videos von @kisonkee (2019, hier nachzusehen).

Danksagung

Wir danken Linda Waack für ihre Mühe, Zeit, gedankliche Raffinesse und theoretische Versiertheit – und für dieses horizonterweiternde Audio-Essay, eine große Bereicherung für unseren auf kleine Prosaformen fokussierten Wissenschaftspodcast.

Dank geht außerdem an Reiner Ziegler vom Haus des Dokumentarfilms Stuttgart, der so freundlich war, uns die Verwendung der Filmstills für die Bildtafel (s.o.) zu gestatten; sowie last but not least an Silke Hilgers, deren Heimstudio wir für die Aufnahme nutzen durften.

Wenn Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, etwas anmerken, uns Feedback geben oder eine Rückfrage stellen möchten, schreiben Sie uns gerne eine Mail an microform-podcast.idl@hu-berlin.de. Wir freuen uns, von Ihnen zu hören!

← zurück